Mauern gegen das Meer | NZZ (2024)

An der japanischen Pazifikküste werden 400 Kilometer Schutzwälle gebaut. Die Betonmauern verstellen die Aussicht. Ob sie die Bevölkerung vor Tsunamis schützen, ist umstritten.

Patrick Zoll, Fudai

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Es ist ein scheussliches Monster aus Stahl und Beton, 200 Meter breit, 15,5 Meter hoch. Die Tsunami-Schutzmauer von Fudai in der Provinz Iwate verbarrikadiert den Eingang in das kleine Tal. Als am Nachmittag des 11. März 2011 der Tsunami auf die Nordostküste Japans zuraste, hofften die 3000 Einwohner von Fudai bangend, dass die Schutzmauer Baujahr 1984 sie vor der Zerstörung schützen werde.

Der Tsunami, ausgelöst durch ein gigantisches Beben der Stärke 9,0 auf der Richterskala, türmte sich in der Bucht mehr als 20 Meter hoch auf. Er schwappte über die Schutzmauer, zerschlug die Fensterscheiben der Kontrollräume, von denen aus die Fluttore abgesenkt werden. Doch während andere Gemeinden dem Erdboden gleichgemacht wurden, waren in Fudai die Schäden gering. Eine einzige Person kam ums Leben. In ganz Tohoku, wie Nordostjapan genannt wird, waren hingegen fast 18 500 Tote und Vermisste zu beklagen. Das Betonmonster von Fudai bewies seine Nützlichkeit.

Baukonzerne profitieren

1933 hatte ein Tsunami in der Gemeinde Fudai mehr als 300 Tote gefordert. In den siebziger Jahren trieb der langjährige Bürgermeister Kotoku Wamura den Bau der Schutzmauer voran. Viele Bürger hielten die mehreren Dutzend Millionen Franken, die der Bau kostete, für verschwendetes Geld. «Doch die Mauer war unsere Rettung», meint Yasuhiko Morita von der Gemeindeverwaltung von Fudai. Aber, so wendet er ein, was in seiner Gemeinde funktioniert habe, können nicht einfach auf andere Orte übertragen werden. Der Bau der Mauer sei nur möglich gewesen, weil der Taleingang von Fudai sehr eng sei. In breiteren Tälern stiegen die Kosten ins Unermessliche.

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Genau das hat die japanische Regierung vor: Sie glaubt, das Modell Fudai kopieren zu können. Wenn es nach ihrem Willen geht − und in Japan geht es meist nach dem Willen der Regierung in Tokio −, verschwindet die Pazifikküste von Tohoku hinter insgesamt 400 Kilometern Schutzmauern. Kostenpunkt für das gigantische Unterfangen: 1 Billion Yen, rund 8 Milliarden Franken.

Beton ist seit Jahrzehnten das Allheilmittel der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) für regionale Probleme, sei es die lahmende Wirtschaft oder der Bevölkerungsschwund. Auch wenn durch Grossbauprojekte kurzfristig lokal Arbeitsplätze entstehen – Hauptprofiteure sind die grossen Baukonzerne, welche die Pläne umsetzen. Sie sind mit der LDP und der Regierung eng verbandelt und darauf bedacht, dass es immer wieder neue Projekte gibt. Das Tsunami-Mauer-Projekt ist eines von vielen, aber bereits in vollem Gang: Eine Fahrt entlang der Küste von Hachinohe nach Ishinomaki führt von einer Baustelle zur anderen. Auf vielen Strassen sind mehr Lastwagen als Autos unterwegs, Bagger versetzen hier die sprichwörtlichen Berge. Vielerorts wachsen die Schutzwälle schon in die Höhe.

Doch die Pläne der Beamten in Tokio stossen auf Kritik. Fischer beklagen, dass sie vom Meer abgeschnitten werden, von dem sie leben. Gemeinden, die über etwas Tourismus verfügen, befürchten, dass niemand mehr kommt, wenn eine Betonwand die Aussicht versperrt. Die erst wiedereröffnete Senseki-Bahnlinie zwischen Ishinomaki und Sendai illustriert das Problem. Der Zug fährt an der Bucht von Matsushima vorbei. Mit den unzähligen mit Kiefern bewachsenen Inselchen wird sie als eine der schönsten Naturlandschaften Japans gehandelt und ist eine beliebte Touristendestination. Doch vom Zug aus sieht man heute streckenweise nur noch Beton.

Auch wird hier die Wirksamkeit der Mauern hinterfragt. Die Mehrheit der Schutzwälle stürzte am 11. März 2011 durch die Wucht des Erdbebens ein oder wurde so geschwächt, dass der Tsunami sie wegfegte. Andere waren schlicht zu wenig hoch. Yoshiaki Kawata, ein Experte für Katastrophenvorsorge, sagt, man müsse unterscheiden zwischen verschiedenen Stärken und Häufigkeiten von Tsunamis. Die Schutzmauern, die nun gebaut würden, sollten Tsunamis standhalten, die alle 100 bis 150 Jahre zu erwarten seien. Gegen stärkere Tsunamis, die deutlich seltener aufträten, könne man sich mit einer Mauer aber nicht schützen. Vielerorts ist auch nicht klar, was die Mauern schützen sollen. Die Gebiete, die vom letzten Tsunami betroffen waren, dürfen nicht mehr bebaut werden. Die Wohnquartiere werden auf höher gelegene Gebiete verlegt. Auch haben die meisten Gemeinden viele Einwohner verloren. «Wer weg kann, zieht weg», meint eine Geschäftsfrau in Kamaishi ernüchtert. Wenn niemand mehr in der Ebene wohnt, werden die milliardenschweren Mauern noch fragwürdiger.

Kritiker sehen auch die Gefahr, dass sich die Menschen hinter den Schutzwällen zu sicher fühlen. «Tsunami-Mauern werden da gebaut, wo es gefährlich ist», argumentiert Morita, der Gemeindevertreter in Fudai. Da die Stärke eines Tsunamis kaum vorausgesagt werden könne, müssten sich die Menschen bei einer Tsunami-Warnung immer in Sicherheit bringen. «Doch wenn sie sich hinter der Mauer zu sicher fühlen, dann fliehen sie nicht», mahnt Morita. Vor vier Jahren hat er beobachtet, dass sich nach dem Beben die älteren Leute eher als die jüngeren in Sicherheit gebracht hätten. Sie wuchsen zu einer Zeit auf, als die Erinnerung an die Verheerungen von 1933 noch lebendig war und es in Fudai keine Mauer gab. Viele Anwohner der Baustellen fragen sich zudem, ob das Geld für den Wiederaufbau nicht anders investiert werden sollte. «Wäre es nicht sinnvoller, breite Strassen zu bauen, über die man im Katastrophenfall schnell fliehen kann?», fragt etwa ein Angestellter eines Hotels in Minamisanriku. Viele Menschen blieben 2011 auf der Flucht mit ihren Autos im Stau stecken und kamen ums Leben.

Einen alternativen Weg hat man auch an der Südküste von Shikoku eingeschlagen. Diese liegt ausserhalb des Katastrophengebiets von 2011 und erhält keine Gelder aus Tokio. Teure Mauern sind für diese Gemeinden unerschwinglich. Darum wurden seither Hunderte von Treppen angelegt, die die Hügelflanken hinaufführen. Gut ausgeschildert führen sie die Fliehenden häufig auf weiter oben gelegene Bahnlinien oder Schnellstrassen. Andernorts wurden spezielle Fluchtorte planiert. Wo es kein höher gelegenes Gebiet gibt, wurden Stahltürme errichtet, die als Fluchtorte dienen. Die beiden Türme von Kure-Nakatosa haben breite Rampen, die auch ältere Leute besteigen können. Zusätzlich gibt es einen handbetriebenen Notfallaufzug. Im obersten Stock sind Decken und Nahrungsmittel gelagert, so dass man ausharren kann, bis Rettung kommt.

Eine mehrstufige Stadt

Dass es auch ohne Mauern geht, zeigt das Beispiel der Gemeinde Onagawa, die knapp 300 Kilometer südlich von Fudai liegt. Die Stadt mit einst 10 000 Einwohnern verzichtet auf eine Tsunami-Schutzmauer, obwohl sie im März 2011 rund 1000 Opfer zu beklagen hatte. «Wir leben vom Meer und mit dem Meer», sagt die Verkäuferin in einem vor kurzem eröffneten Laden, der nur rund 100 Meter vom Ufer entfernt liegt. Vom neu erbauten Bahnhof, entworfen vom Stararchitekten Shigeru Ban, führt eine kleine Allee auf den Hafen zu. Links und rechts entstehen Läden, überall wird noch gehämmert. Die offizielle Eröffnung ist auf den fünften Jahrestag des Tsunamis im kommenden März geplant. Von der Terrasse des kleinen Bahnhofs, wo die Touristen ankommen, eröffnet sich ein prächtiger Blick über die Bucht von Onagawa. Eine Mauer würde das verunmöglichen.

Darauf, dass die Pazifikküste Japans wieder von Tsunamis getroffen werden wird − die Frage ist einzig wann und wie hoch −, bereitet sich Onagawa vor. Man setzt auf eine «mehrstufige» Stadt. Hafenanlagen und fischverarbeitende Betriebe lassen sich kaum schützen. Sie befinden sich notgedrungen am Wasser und werden dort wieder aufgebaut, im Bewusstsein, dass ein künftiger Tsunami sie erneut zerstören wird. Das Gebiet, auf dem sich der Bahnhof und die Ladenstrasse befinden, ist um mehrere Meter aufgeschüttet worden. Hoch genug, um vor kleineren Tsunamis geschützt zu sein; doch bei einem der Grössenordnung von 2011 würden sie überschwemmt, vielleicht gar zerstört. Wohnhäuser sind nur noch auf deutlich höher gelegenen Gebieten zugelassen. Die Erdarbeiten sind noch im Gang, um die nötigen Flächen zu schaffen.

Onagawa ist verhältnismässig reich. Als Standortgemeinde eines Atomkraftwerks erhält sie vom Betreiber saftige Zuschüsse. Man hatte riesiges Glück, nicht dasselbe Schicksal erlitten zu haben wie die Gemeinden rund um das Kraftwerk von Fukushima. Sie werden wegen der Verstrahlung noch lange unbewohnbar bleiben. Die gut gefüllte Gemeindekasse Onagawas macht es möglich, eigene Lösungen zu entwickeln, die den lokalen Vorstellungen entsprechen – und nicht unbedingt jenen der Beamten in Tokio, die auf die Befindlichkeiten der Einflüsterer aus der mächtigen Baubranche Rücksicht nehmen.

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